Nachruf: Johan Galtung – Quelle für Inspiration und Widerspruch

Johan Galtung – Quelle für Inspiration und Widerspruch

 – Ein auch nach vorne blickender Nachruf von Sabine Jaberg –

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Johan Galtung ist tot. Er verstarb im Alter von 93 Jahren am 17. Februar 2024 in seinem Zuhause in Norwegen. Die Friedensforschung hat damit einen ihrer Mitbegründer verloren. Ohne ihn wäre sie nicht das, was sie geworden ist. Ohne ihn hätte vielen der Lehrer gefehlt, an dem sie sich reiben, aber eben auch orientieren konnten. Nun wird sich Friedensforschung ohne ihn bewähren müssen.

  1. Leben und Wirken

Galtung wurde 1930 in Oslo geboren. Sein Schlüsselerlebnis ereignete sich bereits in seiner Kindheit 1944 in einer eiskalten Februarnacht: Die deutschen Besatzer nahmen seinen Vater, einen angesehenen Arzt und stellvertretenden Bürgermeister der Stadt, bis Kriegsende in Haft. Der Sohn blickte ihm damals gemeinsam mit seiner Mutter auf dem Balkon weinend nach. Im Rückblick war das für ihn der Anfang für alles, was noch kommen sollte. So entschied sich Galtung früh für einen konsequenten Weg des Pazifismus. Wegen Kriegsdienstverweigerung nahm er sogar eine sechsmonatige Gefängnisstrafe in Kauf, während der er sein Projekt zu Gandhis politischer Ethik begann. Danach setzte Galtung sein Studium der Mathematik und Soziologie fort. 1959 gründete er das International Peace Research Institute in Oslo (PRIO), die erste friedenswissenschaftliche Forschungseinrichtung in Europa, fünf Jahre später das Journal of Peace Research. An der Universität der norwegischen Hauptstadt übernahm er 1969 den weltweit ersten Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung. Weitere Honorarprofessuren und Gastdozenturen folgten, ehe Galtung die nach seinem speziellen Mediationsverfahren benannte Transcend Peace University im Jahr 2000 als online-Akademie eröffnete. In einer eigenen Buchreihe setzte er sein wissenschaftliches Wirken bis hin hohe Alter fort.

  1. Phasen und Themen

So wichtig seine organisatorischen Leistungen gewesen sein mögen: Die entscheidende Prägewirkung Galtungs für die Friedensforschung resultiert aus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Diese unterteilt sich grob in drei Phasen mit je unterschiedlichen Schwerpunkten:

  • In der ersten legte Galtung vornehmlich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit seinem weiten Verständnis von Gewalt und Frieden den Grundstein der neuen Disziplin. Diese Zeit ist in der Aufsatzsammlung „Strukturelle Gewalt“ von 1975 dokumentiert. Hier findet sich auch seine wegweisende Definition: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ (S. 9). In den Mittelpunkt rückt damit nicht irgendein Kollektiv wie etwa die Nation, sondern „das Individuum [als] die Einheit, auf die es ankommt“ (S. 49). Und: Gewalt definiert Galtung ausschließlich über das Resultat, das beim Adressaten ankommt, nicht aus den Motiven ihres Urhebers oder durch ein bestimmtes Tun. Zudem präzisiert er seine Definition gleich zweifach. Zum einen begreift er Gewalt als Ursache der Differenz zwischen Aktualität und Potentialität, die zum anderen erst dann zur Gewalt würde, wenn sie zum Zeitpunkt ihres Auftretens vermeidbar gewesen wäre. Auf dieser „ontologischen“ Basis nimmt Galtung seine schon ikonische analytische Unterteilung vor: Personale Gewalt kann einem prinzipiell identifizierbaren Akteur zugeschrieben werden, während dies bei struktureller Gewalt nicht (mehr) der Fall ist, da hier ungleiche Lebenschancen bereits fest in ein System eingeschrieben sind. Mit dem weiten Gewaltbegriff korrespondiert ein genauso weiter Friedensbegriff: Die Abwesenheit personaler Gewalt nennt Galtung negativen Frieden, die Anwesenheit des Friedens in Form umfassender sozialer Gerechtigkeit positiven Diese Adjektive beschreiben nicht – wie vielfach kolportiert – eine besondere Qualität, sondern ausschließlich den negativen bzw. positiven Definitionsmodus. Beide Friedensdimensionen begreift Galtung als Zwillingsidee: Sie können bei ihm nicht nur, sie müssen stets zusammengedacht werden.
  • Die zweite Phase besteht in der kulturalistischen Wende zu Beginn der 1990er Jahre, in der er zudem seine Begrifflichkeiten stärker an einer explizierten Kategorie menschlicher Grundbedürfnisse ausrichtet und seinen begrifflichen Feinapparat nachjustiert. Sie verdichtet sich im Werk „Frieden mit friedlichen Mitteln“ (1998). Hier führt er neben der personalen und strukturellen eine kulturelle Dimension ein. Damit meint er jene Aspekte der symbolischen Sphäre, die Frieden bzw. Gewalt in ihrer personalen bzw. strukturellen Form zu legitimieren in der Lage sind. Während er in einem Dreiecksmodell alle Dimensionen als einander gleichberechtigt behandelt, nimmt er im Schichtenmodell eine Gewichtung zugunsten der kulturellen Dimension vor – insbesondere in Form der Kosmologien genannten Tiefenkulturen.
  • In der dritten Etappe zur Jahrtausendwende geht es ihm vornehmlich um die konzeptionelle Entfaltung seiner Transcend genannten Praxeologie und deren Erprobung in zahlreichen Konflikten. Hierüber geben sowohl das Transcend-Manual (2000) als auch der Band „Konflikte und Konfliktlösungen“ (2007) Auskunft. Erste Schritte auf dem Weg zu einer elaborierten Praxeologie erfolgten wie die Gründung des Transcend-Netzwerks jedoch schon zu Beginn der 1990er Jahre. Die begriffliche Vorarbeit findet sich sogar schon in „Strukturelle Gewalt“: Hier definiert Galtung Konflikt tendenziell subjektivistisch als „Inkompatibilität zwischen Zielsetzungen oder Wertvorstellungen von Akteuren in einem Gesellschaftssystem“ (S. 110). Und hier legt er mit der Unterscheidung dreier Dimensionen – Verhalten, Konflikt(gegenstand) und Einstellungen – den analytischen Grundstock, den er in „Frieden mit friedlichen Mitteln“ weiter ausstaffiert.

 

Nahezu durchgängig hat Galtung grundsätzliche Fragen der Methodologie und Theorie erörtert. In „Frieden mit friedlichen Mitteln“ präsentiert er eine ausgereifte Konzeption disziplinärer Konturierung: Die Wertethesen verpflichten Friedensforschung im Sinne einer Wissenschaft für den Frieden, die durch den methodischen Dreischritt „Diagnose-Prognose-Therapie“ gekennzeichnet sei. Sie verlangen nach einer klaren, aber nicht zu exakten Friedensdefinition. Entsprechend empfehlen sie, sich Frieden im Plural als „die Frieden“ (S. 40) vorzustellen. Galtung zieht einen möglicherweise verwirrenden informierten Dissens unter Fachleuten einem bis in Detail gehenden maximalen Konsens vor, weil dieser schnell zum massiven Dogmatismus geraten könne. Objektivität resultiere seines Erachtens aus Intersubjektivität, die durch Explikation hergestellt werde. Hinzu kommen die Theoriethesen, die nicht nur das plurale Friedensverständnis und den praktischen Ansatz zusätzlich stützen. Darüber hinaus fordern sie eine taoistisch beeinflusste Epistemologie ein. Demnach ist „Yin […] in Yang enthalten und Yang in Yin; Yang ist im Yin des Yang enthalten und Yin im Yang des Yin, usw., ad infinitum.“ (S. 43) Dies schärft die vielbeschworene detektivische Kraft des Galtung’schen Ansatzes, der nunmehr systematisch dazu anleitet, im Frieden nach der Gewalt und in der Gewalt nach dem Frieden zu suchen. Hinzu kommen zahlreiche Vertiefungsstudien in unterschiedlichen Themenfeldern wie etwa der Imperialismustheorie, der Globalisierung, der Rolle großer Mächte oder der Zukunft der Menschenrechte.

  1. Auszeichnungen, Kritik und Anfeindungen

Galtung wurde einerseits für sein akademisches Schaffen und praktisches Wirken mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Right Livelihood Award (1987) sowie dem Gandhi-Preis (1993). Andererseits war der Vor- und Querdenker stets umstritten: Während die einen die detektivische Kraft seines weiten Gewalt- und Friedensbegriffs lobten, witterten andere hier nichts weniger als das Ruinieren der Begriffe, sprich: die Zerstörung der Wissenschaftlichkeit. Während die einen – ungeachtet Galtungs eigener beispielhafter Berechnungen struktureller Gewalt – die mangelnde Operationalisierbarkeit seiner Begriffe beklagten, sahen andere gerade im nicht-operationalisierbaren normativen Überschuss eine besondere Stärke. Während die einen bei Galtung einen anti-dogmatischen Anarchismus am Werke sahen, wähnten andere ihn aufgrund seines allumfassenden Ansatzes auf dem Wege zum Totalitarismus, was wiederum andere – frei nach Martin Seel – als Holismus ohne bestimmtes Ganzes präzisierten. Während die einen ihn als Wegbereiter und Verfechter eines wissenschaftlichen wie praktischen Pazifismus wertschätzten, verunglimpften andere ihn in den 1970er Jahren als geistigen Brandstifter des RAF-Terrorismus. Während die einen Galtungs Gewaltdefinition als objektiven Maßstab lobten, mit dessen Hilfe sich Gewalt nahezu kontextunabhängig feststellen lasse, lehnten andere sie genau deshalb als paternalistisch bzw. kulturimperialistisch ab. Während die einen Galtungs kulturelle Multiperspektive begrüßten, beklagten andere deren Eurozentrismus, Eklektizismus und Essentialismus. Und während die einen die Einbeziehung der Geschlechterdimension anerkannten, monierten andere androzentrische Auslassungen ebenso wie biologistische Argumentationsfiguren.

Zweifelsfrei besitzen diese und auch weitere Einwände unterschiedliche Belastbarkeit: Einige zeigen bestehende Defizite auf, manche spiegeln lediglich konträre Positionierungen der Kritiker*innen wider, einzelne beruhen auf bloßen Missverständnissen oder gar haltlosen Unterstellungen. In der Summe weisen sie Galtung als Paradebeispiel eines führenden Wissenschaftlers aus. Hierunter versteht Christoph Paret solche, die Heerscharen an Kritiker*innen und Kommentator*innen hinter sich herziehen. Seines Erachtens sei gute Forschung eben nicht einwandfrei, sondern im Gegenteil: Gute Forschung setze Einwände frei. So verstanden war Galtungs Wissenschaft geradezu exzellent.

Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit gelten aber nicht nur für die Rezeption seines Werkes, sondern auch für die Einschätzung seiner Person: Galtung war zahlreichen Erzählungen nach im persönlichen Umgang nicht immer so friedfertig, wie dies ein Friedensforscher idealerweise wohl hätte sein sollen. Vielmehr vermochte er durchaus auch jene Gewalt zu reproduzieren, über die er sensibel wie kaum ein anderer zu forschen wusste. Und gewiss hat er sich mit einigen politischen Einlassungen keinen Gefallen getan – insbesondere jenen, die für sich betrachtet anti-semitisch deutungsoffen sind. Wenngleich ein schaler Nachgeschmack bleiben mag: Die Einordnung in das Gesamtwerk würde einer solchen Lesart klar widersprechen. Hier fiele jede Form des Anti-Semitismus ohne Wenn und Aber unter die Kategorie massivster kultureller Gewalt, auf deren Überwindung Galtung ja hinwirken wollte.

  1. Ein Blick nach vorne in Dank und Respekt

Was bleibt? Zu Galtungs Verdiensten zählt gewiss sein Beitrag in der Gründungs- und der Etablierungsphase der Friedensforschung. Allerdings würde ein historisierender Nachruf dem Pionier nicht gerecht. Vielmehr kann nur ein Plädoyer folgen, sein Schaffen als unversiegbare Quelle der Inspiration zu begreifen. Gerade in Zeiten zunehmender Gewaltkonflikte auch in Europa braucht es hier eine Friedensforschung, die auf riskante Eskalationsdynamiken hinweist und andere Wege erkundet. Genau darin lag eine ihrer Gründungsintentionen: Sie trat nämlich unter anderem an, um das am Rande des atomaren Abgrunds balancierende Abschreckungssystem zu überwinden.

Auch heute benötigt Friedensforschung einen heuristischen Apparat, der sich gegen die Versuchung der Gewaltsamkeit sogar dann sperrt, wenn alle anderen Wege wenig erfolgversprechend scheinen oder als politisch diskreditiert gelten. Galtung hat die Auffassung, man könne nicht gleichzeitig auf negativen und positiven Frieden hinwirken, ob ihres Pessimismus‘ in „Strukturelle Gewalt“ pointiert als eine „Art intellektueller und moralischer Kapitulation“ bezeichnet (S. 36). Diese Aussage mag als empirischer Befund überzogen scheinen. Als normativer Appell, sich nach allen Kräften auch bei massivstem Gegenwind um gewaltfreie Alternativen zu bemühen, taugt sie allemal. Und mit seinen Begrifflichkeiten, seiner taoistisch inspirierten Erkenntnistheorie sowie seinen Werte- und Theoriethesen liefert Galtung dazu heuristische Stützen. Wenngleich sie als Letztwahrheiten missverstanden wären, so stellen sie doch einen Kompass zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich Wissenschaftler*innen eigenständig auf dem Boden der Friedensforschung bewegen können, den sie sogar dem eigenen Bedarf entsprechend nachjustieren oder eventuell sogar gegen ein Instrumentarium eintauschen können, das Frieden mit friedlichen Mitteln noch besser zu erreichen verspricht, so dass Galtungs Ansatz dialektisch gesprochen „aufgehoben“ wäre.

Galtung ging es stets um eine bessere – sprich friedlichere und gewaltärmere – Welt. Zur Feier seines 90. Geburtstags wünschte er sich vielsagend mit „What a Wonderful World“ von Louis Armstrong eine musikalische Liebeserklärung an die Welt, die Natur und die Liebe. Der Glaube an diese wundervolle Welt sowie das Wissen darum, dass der Mensch sie zerstören, aber auch bewahren kann, haben ihm die innere Kraft gegeben, sich ein Leben lang dem Frieden und seiner Erforschung zu widmen. Dafür gebührt ihm Dank und Respekt – und, wo nötig, auch unser Widerspruch.

Auswahlbibliographie

Galtung, Johan/Næss, Arne (2019): Gandhis politische Ethik. Die Begründung der Satyagraha-Normen erstmals in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Reiner Steinweg, übersetzt von Christine von Bülow, Christian Bartolf und Xaver Remsing. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft (Religion – Konflikt – Frieden; 10.).

Galtung, Johan (2017): Turning Taboos into Constructive Discourses. Featured Research Paper vom 25. September 2017. (https://www.transcend.org/tms/2017/09/turning-taboos-into-constructive-discourses/).

Galtung, Johan (2014): A Theory of Civilization. Overcoming Cultural Violence. o. O.: Kolofon Press.

Galtung, Johan (2013): A Theory of Peace. Building Direct Structural Cultural Peace. o. O.: Kolofon Press.

Galtung, Johan (2012): Galtung_Haaretz_Comparison_v2. (https://www.transcend.org/galtung/statement-may-2012/galtung_haaretz_comparison_v2.pdf.).

Galtung, Johan (2009): The Fall of the US-Empire – And Then What? Successors, Regionalization or Globalization? US Fascism or US Blossoming? o. O.: Kolofon Press.

Galtung, Johan (2007): Konflikte und Konfliktlösungen. Die Transcend-Methode und ihre Anwendung. Berlin: Kai Homilius Verlag (Globale Analysen; 3.).

Galtung, Johan (2006): Auf Friedenswegen durch die Welt. Eine autobiographische Reiseskizze. Aus dem Norwegischen von Britta Steinkamp. Münster: Agenda Verlag.

Galtung, Johan (2000): Conflict Transformation by Peaceful Means (the TRANSCEND Method). Participants’ Manual, Trainers’ Manual. New York: United Nations.

Galtung, Johan (2000): Die Zukunft der Menschenrechte. Vision: Verständigung zwischen den Kulturen. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Galtung, Johan (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Hajo Schmidt. Opladen: Leske + Budrich (Friedens- und Konfliktforschung; 4.).

Galtung, Johan (1998): Die andere Globalisierung. Perspektiven für eine zivilisierte Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert. Hrsg. und mit einer Einführung versehen von Hajo Schmidt. Münster: Agenda Verlag (Agenda Frieden; 28.).

Galtung, Johan (1978): Methodologie und Ideologie. Ansätze zur Methodologie. Bd. 1. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Galtung, Johan (1978): Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, in: Senghaas, Dieter (Hrsg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion. Mit Beitr. von Johan Galtung u. a. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp; 563.), S. 29–104.

Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag (rororo-aktuell; 1877.).

Galtung, Johan (1973): Kapitalistische Großmacht Europa oder Die Gemeinschaft der Konzerne? „A Superpower in the Making“. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag (rororo-aktuell; 1651.).

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